Die Bundestagskommission: „Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren”, ein Tisch im Geisterzug des Zeitgeists auf dem Weg ins Nirwana!?

Stellungnahme zum Beitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 13.06.2009 „Fertig gemacht wie einst im Heim”

Als Heimkind der 1960er Jahre gehörte man zu den sozialen Randgruppen der Gesellschaft und galt als „asozial”, in der Fachwelt als stigmatisiert, d.h. gebrandmarkt und für ein Leben gezeichnet. Mit einem Heimkind wollte man nichts zu tun haben, die Gleichaltrigen hielten Distanz mit Ausnahme der Kinder, die ebenfalls als asozial eingestuft wurden und in entsprechenden Wohnvierteln wohnten. Die Wohnviertel wurden im letzten Jahrhundert weitestgehend aufgelöst und man hat den betreffenden Familien neuen Wohnraum in anderen Stadtvierteln geschaffen, um Ghettos zu vermeiden. Die Fachwelt mit ihrer Fachdisziplin Heimpädagogik interessierte sich für diese stigmatisierten Kinder um Lösungen zu finden, sie von ihrem Stigma zu befreien, denn ein Großteil (Schätzungen gehen auf bis zu 80%) ehemaliger Heimkinder wurde/wird kriminell im Jugendlichen- und Erwachsenenleben. Und die Fachwelt laboriert noch heute an möglichen Erklärungs- und Lösungsansätzen für die hohe Kriminalitätsrate ehemaliger Heimkinder. Nun fordert ein Verein ehemaliger Heimkinder Schadensersatz für erlittenes Unrecht und verbindet dies auch mit finanziellen Forderungen in Höhe von ca. 50.000 Euro pro Kind/Jugendlicher. Bei geschätzten 500.000 Opfern kämen da mindestens 25 Milliarden Euro zusammen. Doch als selbst Betroffener und derzeit Nichtmitglied des Vereins ehemaliger Heimkinder gehen Geldforderungen teilweise am Problem vorbei. Es stellt sich für mich die Frage, was können wir aus dem geschehenen Unrecht an den damaligen Heimkindern lernen, damit sich dies nicht wiederholt und wie kann Betroffenen geholfen werden, die zu Zwangsarbeit verpflichtet waren und für die keine Rentenbeiträge entrichtet wurden. Dazu erscheint der „Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren” als ein geeignetes Medium. Hier sollen Betroffene zu Wort kommen, und sofern diese es nicht können, dürfen sie auch vertreten werden, von solchen, die es erlebt haben. Mitmenschen, die diese Erlebnisse nicht durchmachten, sind hier größtenteils fehl am Platze und wirken nur um ihrer eigenen Interessen willen, die ihren Ursprung in anderen Interessenskonstellationen haben und nicht im erlebten Unrecht.

Auch für mich ist es heute nach über 45 Jahren der Heimkinderziehung noch immens schwierig darüber zu reden und das trotz akademischer Qualifizierung. Bis auf weiteres werde ich daher auch nur darüber schreiben können. Ich habe die Vergangenheit weitestgehend begraben, doch täglich habe ich Gedankenblitze, die mich an die damalige Zeit erinnern. Das was mir u. meinen Geschwistern widerfahren ist, lässt sich mit Geld nicht ausgleichen. Wir konnten uns dank der Hilfe von Pflegeeltern und dem eigenen Intellekt alle recht gut entwickeln und sind daher materiell weitestgehend unabhängig. Viele Heimkinder, die nicht in eine Pflegefamilie vermittelt werden konnten, galten in etlichen Fällen als familienunfähig bzw. wurden als solche deklariert und als Jugendliche in die Erziehungsheime befördert oder wenn familienfähig in Pflegestellen vermittelt, zumeist landwirtschaftliche Betriebe, um dort entsprechend mitzuwirken. Als Jugendlicher war man primär noch weiter sozialisierungsbedürftig was in erster Linie bedeutete, zum Arbeitstier erzogen zu werden. Leider wurde man das Stigma Heimkind nicht mehr los. Sobald Probleme auftraten, wurde man zu oft daran erinnert. Dennoch muss man sich auch als ehemaliges Heimkind damit auseinandersetzen, dass es auch in „normalen” Familien Demütigungen, Misshandlungen und Zwangsarbeit gegeben hat und je nach Welt- und/oder Religionsanschauung auch heute noch gibt. So war z.B. bis Ende der 1960er Jahre in den öffentlichen Schulen noch die Prügelstrafe erlaubt. Ich selbst wurde mal von einem Pfarrer im Religionsunterricht der 6. oder 7. Klasse auf die rechte Wange geschlagen, nachdem er zuvor links antäuschte und ich dann durch die halbe Klasse fiel. Es entsprach quasi dem Zeitgeist, das öffentlich geschlagen werden durfte. Nachdem die Prügelstrafe abgeschafft war, war sie damit noch nicht im Elternhaus abgeschafft, sondern lediglich in der Schule. Es hat dann noch lange gedauert, bis 1998, als dann auch das Prügeln von Kleinkindern für Eltern in der Öffentlichkeit verboten wurde. Es soll hier keine Entschuldigung sein, dass Heimkindern gleiches widerfuhr, jedoch waren sie nicht allein. Ein leibliches Kind kommt in aller Regel jedoch nicht auf den Gedanken, seine Eltern deswegen verklagen zu wollen. Es wird dann später als Heranwachsender den Kontakt niedrig halten oder sogar aufgeben. Ein Kind konnte auch in normalen Familien zu Arbeitsdiensten herangezogen werden und es gibt die ganz selbstverständlichen Pflichten, wenn alle mithelfen. Auch kann es für ein Kind einen erheblichen Stressfaktor darstellen, wenn es seinen erfolgreichen Eltern nacheifern muss und es offensichtlich nicht kann, wie jüngst der Amoklauf in Winnenden gezeigt hat. Ein Realschüler aus offensichtlich wohlbehütetem Elternhaus dreht durch und scheinbar niemand in der Fachwelt versteht es. Die Meßlatte war hier zu hoch, der Vater akademisch gebildet und erfolgreicher Unternehmer, der Sohn schafft gerade mal die Realschule. Wer hatte nun mehr Stress? Ein Heimkind? Nein, der Jugendliche Amoktäter, sonst wäre er ja nicht Amok gelaufen. Es stellt sich also die Frage, wie können wir aus dem Anfangssatz „Fertig gemacht...” im historischen Kontext nun vermeiden, dass sich dieselben Fehler wiederholen?

 

  1. Aufklärungsarbeit und keine Verleugnung

    Kinderarbeit ja oder nein?
    Ich habe im Kinderheim entsprechend meines kindlichen Leistungspotentials arbeiten müssen. Ich habe mit anderen die Schlaf- u. Esszimmer geputzt (nass mit Kernseife), die Holztreppen gebohnert, die Strümpfe am Freitag gewaschen, die Schuhe geputzt, den riesigen Hof gekehrt usw., d.h. die Heimleitung hat viele Putzfrauen sparen können. Die Heimerzieher haben fast ausschließlich nur aufgepasst, dass alles korrekt lief. Dabei wirkten die Heimerzieher wie Perfektionisten, denn Fehler machten immer nur die Heimkinder. Die Fortsetzung folgte dann als Jugendlicher im Erziehungsheim oder bei Unternehmerfamilien (Landwirtschaft, Kleinbetrieben).
    Ergebnis: Meine Arbeit im Kinderheim war Kinderarbeit (ohne Entgelt), die Arbeit als Jugendlicher war entweder im Rahmen eines Ausbildungsverhältnisses oder ohne Ausbildungsverhältnis, somit Hilfsarbeiter. Wenn die Arbeit als Hilfsarbeiter geleistet wurde, dann war es sozialversicherungspflichtige Tätigkeit. Ein Unternehmer, der Hilfsarbeiter ohne Entgelt beschäftigt, macht sich strafbar. Da ein Jugendlicher noch keine Ahnung von Recht hat, dem Unternehmer dies jedoch zuzubilligen ist, kann diese Straftat aus Sicht des Jugendlichen nicht verjähren. Unrecht verjährt moralisch nicht, leider jedoch nach irdischen Maßstäben. Eine politische Aufarbeitung muss auch den moralischen Maßstäben gerecht werden. Der Verweis auf geltendes Recht ist leider nicht zielführend und es bleibt unter moralischen Gesichtspunkten der Betrug am Mitmenschen. Bezieht man nun noch religiöse Gesichtspunkte ein und hier verweise ich auf die christliche Lehre, dann gibt es keine Verjährung. Da das Kirchenrecht keine Verjährung kennt, sondern nur die Vergebung, wäre bei Kinder-/Erziehungsheimen unter christlicher Leitung das Kirchenrecht anzusetzen. Hier möchte ich auf den sterbenden Christus am Kreuze verweisen, der sagte: Herr, vergib Ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun. Christus sagte dies über seine Peiniger, die alle erwachsen waren. Die Kirchen haben sich bereits entschuldigt, jedoch reichen mündliche Aussagen nicht allein, es fehlen noch die Taten, nach christlicher Lehre fehlt die Buße. Es wäre zu prüfen, was die Kirchen durch die Kinderarbeit an Putzfrauen eingespart haben und sich aus öffentlichen Kassen haben erstatten lassen, denn die Putzfrauen waren offensichtlich kalkuliert. Als ich das Kinderheim verlassen hatte und erfuhr, was angeblich ein Heimplatz kostet, dann wunderte mich nichts mehr und konnte nur noch feststellen, dass seitens der Kirche ein grundsätzliches Interesse bestehen musste, an diesen Einrichtungen festzuhalten. Schließlich war es eine sehr gute Möglichkeit, für das eigene Nachwuchspotential zu sorgen. Doch ohne elterliche Liebe, der Basis jeder Persönlichkeitsentwicklung, lässt sich kein Nachwuchspotential aufbauen. Folglich wird heute die Abrechnung präsentiert. Die Endabrechnung versuchen nun oberste Repräsentanten der Politik zu verstehen und können erstmal nur zurückhaltend reagieren.

  2. Ein Kind hat ein natürliches Recht auf Eltern
    Als kürzlich der Popstar Madonna ein Heimkind aus Malawi adoptierte erregten sich die Gemüter. Kritiker sprachen von Kindershopping und wissen auch nicht damit, was sie tun. Madonna lebt vor, was das natürliche Recht eines Kindes sein muss, nämlich Eltern oder zumindest eine dauerhafte Bezugsperson zu haben, die es sein eigen nennen kann. Leider kennt auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kein natürliches Recht des Kindes auf Eltern, sondern in Artikel 6 des Grundgesetzes nur das Elternrecht. Wir sind damit noch weit davon entfernt, uns für Kinderrechte stark zu machen. Da helfen auch die derzeitigen Kinderschutzorganisationen nicht, die primär materiellen Gesichtspunkten gerecht werden und sich für Heimkinder kaum interessieren. Man bräuchte sonst den „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren” nicht.

  3. Rechtstaat
    Wir nennen uns ja auch Rechtstaat, Leistungsgesellschaft und was kümmern uns dann die Randgruppen. Aber gelegentlich nimmt sich ihrer ja doch noch jemand an. Dennoch was sind 500.000 Opfer bei einer jährlichen Geburtenrate von über 600.000 Kindern bzw. in den letzten 45 Jahren wurden 27 Mio. Kinder geboren, d.h. 500.000 Opfer sind dann 1,85 %. Doch diesen Opfern fehlen nun ein paar Rentenjahre und die reiche Bundesrepublik kann es sich offenbar nicht leisten; nur 500 Milliarden für ein Bankensystem zu retten sind nicht zu viel.
    Auch wenn es etwas sarkastisch klingen mag, doch der Verweis auf den Rechtstaat im Sinne des Status quo trägt nichts zur Problemklärung bei. Doch auch ein Rechtstaat entwickelt sich weiter und die Bundesrepublik gilt ja als eines der gesetzesreichsten Länder auf der Welt. Warum ist es nun so schwierig ein weiteres Gesetz bzw. ein bestehendes Gesetz zu ergänzen? Es ist ja nur eine Minderheit. Das sitzen wir dann mal aus und schaffen zunächst mal eine Kommission, die das ganze aufarbeitet und stellen erstmal alles in Frage. So heißt es denn das bisher niemand sagen könne, wie viele von den geschätzten 800.000 Heimkindern misshandelt wurden. Für mich als Betroffener ist diese Frage absolut unverständlich, auch wenn es die betreffende Fragerin offensichtlich ernst meint. Die Frage stellt auch auf Misshandlung ab und meint damit zumeist die körperliche Misshandlung. Die Beförderung in ein Kinderheim ist für das Kind immer eine seelische Misshandlung, es bekommt die Bezugsperson ersetzt durch professionelle Erzieher, die kein intimes persönliches Interesse am Kind haben, sondern es primär als Verwahrobjekt sehen. Ich höre heute noch das herzzerreißende Geschrei meiner jüngeren Schwester, die vor mir abgegeben wurde und eine Nonne sie nicht zu trösten vermochte. Der Staat zeigte mir, das Recht ist das Recht des Stärkeren, das Kind ohne Eltern ein notwendiges Übel in der Welt. Als ich als Erwachsener einem leitenden Mitarbeiter eines Jugendamtes mitteilte, dass das Kinderheim für mich ein Kindergefängnis war, konnte er daraufhin nur entgegnen: das Jugendamt ist für mich auch wie ein Gefängnis, ein Gefängnis der Verwaltung. Der Sozialarbeiter nahm nun die Rechtfertigung für das Kindergefängnis aus seinem eigenen Verwaltungsgefängnis. Wenn ich mir heute vorstelle, was ich tun müsste, um eine fast siebenjährige Gefängnisstrafe abzusitzen, nein, das lassen wir lieber. Ich bin letztlich froh, dass ich nach sieben Jahren Kindergefängnis im Alter von 14 Jahren in eine Pflegefamilie integriert wurde, sodass mir Erziehungsheime erspart blieben. Viele Jugendliche schafften dies nicht und durchlebten nun weiteren Arbeitsterror, der zudem den Verantwortlichen zu Einnahmen verhalf. Wie mir eine Ordensschwester mal mitteilte, erhielt sie von ihrem Orden auch nur ein monatliches Taschengeld, ihr Verdienst als Krankenschwester ging voll an den Orden. Das war offensichtlich auch das Geschäftsmodell für die zu sozialisierenden Jugendlichen, unter heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen kann dies nur als pervers gelten. Was damals als „normal” galt oder was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein oder war es damals schon Unrecht, dann verlangt es nach Ausgleich. Unter den Verhältnissen der Diktatur, des 3. Reiches, war es das Recht der Diktatur, doch in den 50er und 60er Jahren hatten wir die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland und dies ist die Meßlatte. Unter demokratischen politischen Gesichtspunkten war es Unrecht. Kinder in Kinderheime und Jugendliche in Erziehungsheime zu stecken war das Relikt politischer und religiöser Diktatur. Nun wird die Vergangenheit aufgerollt, weil es etliche damaligen Jugendliche schafften auf ihr wahrgenommenes Unrecht aufmerksam zu machen. Doch es ist nicht das erfahrene Unrecht, es sind die Leiden, die heute noch den damaligen Jugendlichen zu schaffen machen. Die Leiden, die eingebrannt sind im Gehirn und ein Ventil brauchen. Geld wird den Ausgleich für Zwangsarbeit nicht schaffen können, doch es wäre eine symbolische Geste im demokratischen Rechtstaat. Der Zeitgeist lässt sich nicht verleugnen, die Prügelstrafe war legitimes Zuchtmittel bis Ende der 1960er Jahre. Die Verantwortungsträger in der Politik haben es verstanden und in den öffentlichen Einrichtungen wie Schulen gesetzlich verboten. Eine Fahrt zurück in die Vergangenheit ist nicht leicht, ein runder Tisch soll symbolisch vereinen, doch der Runde Tisch wird Eckpunkte behalten, die je nach Ergebnis zu Kanten werden können. Der Runde Tisch soll den Politikern helfen, Milliardenforderungen abzuwehren, wie sie in Kanada und Irland erhoben wurden und offensichtlich bewilligt wurden. Deutschland ist zumindest soweit gereift, dass darüber geredet werden kann. Die direkt Betroffenen haben jedoch in aller Regel nicht die Sprache, die Kommunikationsstärke, um ihre Forderungen auch durchzusetzen. Dazu setzen sich jedoch dann die Mitmenschen ins Licht, die Kommunikationsstärke gelernt haben und ihre eigenen Interessen verfolgen. Dieses Spiel wird zu schnell durchschaut. Deutschland fürchtet dann nur noch die nachhaltige öffentliche Diskussion und individuelle Rechtsverfolgung, die nun mit der Kommission versucht wird, ins Nirwana zu schicken. Der Runde Tisch eine Fahrt im Geisterzug des Zeitgeistes auf dem Weg ins Nirwana.